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Artikel

Fachgespräch: Tempo 30

Portrait of Swantje

Swantje Michaelsen

8 min Lesezeit

11. Dezember 2024

Bei dieser Veranstaltung, die ich gemeinsam mit meiner Kollegin Karoline Otte durchgeführt habe, standen die neuen Möglichkeiten zur Anordnung von Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen im Mittelpunkt. Zusammen mit Roman Ringwald, Partner bei der Kanzlei BBH und Experte für Straßenverkehrsrecht, ordneten wir die Reform des Straßenverkehrsrechts insgesamt ein und erläuterten dann die Änderungen bei Tempo 30. Anschließend wurden die Fragen der Teilnehmenden beantwortet. Im Folgenden fassen wir kurz die zentralen Punkte des Vortrags von Dr. Roman Ringwald und die wichtigsten Ergebnisse der Diskussion zusammen.

In der Zwischenzeit liegt auch die Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) vor, die auch einige Hinweise zur Umsetzung von Tempo 30 in den Kommunen enthält. Wo sich dadurch Änderungen bzw. Ergänzungen ergeben, haben wir in der entsprechenden Antwort ergänzt.

Neue rechtliche Möglichkeiten (Roman Ringwald, BBH)

Roman Ringwald erklärte, dass mit der Verankerung der neuen Ziele Klimaschutz, Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung im Straßenverkehrsgesetz (StVG) ein Paradigmenwechsel im Straßenverkehrsrecht gelungen ist. Durch die Einführung der neuen Ziele im Gesetz war die Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) erst möglich. Die StVO schöpft den Spielraum des StVG nicht aus, nutzt ihn aber in Teilen gut, z.B. bei der Anordnung von Flächen für den Fußverkehr, Radverkehr und Busverkehr.

Bei Tempo 30 hatten sich die Kommunen einen größeren Spielraum erwünscht. Die Anordnung von Tempo 30 kann weiter nur zur Gefahrenabwehr angeordnet werden. Aber: von dem Nachweis einer qualifizierten Gefahrenlage vor der Anordnung von Tempo 30, gibt es inzwischen viele Ausnahmen. Roman Ringwald zufolge, ist das Potential hier größer als es auf den ersten Blick wirkt.

Die Möglichkeiten im Einzelnen:

1) Verbindungstrecke zwischen zwei Tempo-30-Strecken: Lücken können nun auf bis zu 500 Meter geschlossen werden.

2) An Einrichtungen, bei denen Verkehrssicherheit besonders große Bedeutung hat: an Fußgängerüberwegen, Kindergärten, Kindertagesstätten, Spielplätzen, hochfrequentierten Schulwegen, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen, Alten- und Pflegeheimen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder Krankenhäusern [neu hinzugekommene Einrichtungen sind fett hervorgehoben]

Zudem: Keine Einrichtung, sondern eine Strecke: Tempo 30 ist nun auch an „hochfrequentierten Schulwegen“ möglich.

Die vollständige Präsentation von Dr. Roman Ringwald kann hier heruntergeladen werden.

Fragen & Antworten

Wie kann eine einfache Gefahrenlage nachgewiesen werden? Wie ist es mit Ortschaften ohne Gehsteige, hilft das bei der Argumentation?

Bislang war die qualifizierte Gefahrenlage bei Anordnungen die große Hürde. Eine einfache Gefahrenlage kann in der Regel begründet werden, dafür sind auch – anders als bei der qualifizierten Gefahrenlage – keine Zählungen nötig. Künftig werden Straßenverkehrsbehörden bei den genannten Einrichtungen großen Spielraum haben. Wenn sogar noch Gehsteige fehlen, erleichtert das die Anordnung von Tempo 30 zusätzlich (wäre aber nicht erforderlich).

Eine Verwaltung weigert sich Tempo 30 anzuordnen, da laut StVO „Verkehrszeichen und Verkehrsanordnungen zwingend erforderlich“ sein müssten. Was bedeutet „zwingend erforderlich“ in §45 Abs. 9?

Das ist die Formulierung der „einfache Gefahrenlage“ in der StVO (s.o.). Diese ist eigentlich keine große Hürde, es müssen keine Zählungen o.ä. gemacht werden. Es muss geprüft und abgewogen werden, aber gerade bei Tempo 30 an den oben genannten Einrichtungen muss der Nachweis nicht sehr umfangreich sein.

Wie einheitlich wird die Umsetzung in den Bundesländern sein?

Schon unmittelbar nach der Reform wurde deutlich, dass die Verkehrsministerien in den Ländern sehr unterschiedlich agieren. In Baden-Württemberg wurden die Straßenverkehrsbehörden mit einem Schreiben aufgefordert, die neue StVO anzuwenden, einem Schreiben in Bayern zufolge, sollen sie hingegen erstmal nicht tätig werden, sondern auf die Verwaltungsvorschrift warten. Hier wird die Verwaltungsvorschrift hoffentlich hilfreich sein und einen Mindeststandard an gemeinsamer Anwendung etablieren. Es wird aber immer einen Unterschied machen, wer Verkehrspolitik bzw. Verkehrsverwaltung in einem Bundesland politisch führt.

In vielen Verwaltungen wird argumentiert, dass Tempo 30 nicht angeordnet werden kann, weil die Schule keinen Ausgang in Richtung der betreffenden Straße hat. Wird die Reform hier etwas ändern?

Ja! Nach der alten Rechtslage war das nicht eindeutig und Verwaltungen konnten die VwV-StVO noch so eng auslegen (auch wenn das schon vorher nicht zwingend war). Nach der neuen Rechtslage ist eine solche Auslegung nicht mehr haltbar, weil man jetzt auch mit hochfrequentierten Schulwegen argumentieren kann. Hochfrequentierte Schulwege werden voraussichtlich die Hauptwege von Schüler*innen umfassen. Bei Straßen im unmittelbaren Umfeld von Schulen wird eine Begründung künftig in der Regel leicht möglich sein.

Ist der Weg zur Bushaltestelle auch ein Schulweg?

Die Verwaltungsvorschrift wird möglicherweise auf Schulwegpläne verweisen. Wenn ein Weg zur Bushaltestelle in einem solchen Schulwegplan drin ist, gibt es Anhaltspunkte, auch hier Tempo 30 auszuweisen. Letztlich wird es darauf ankommen, wie viele Schüler*innen sich auf den Weg zu dieser Bushaltestelle machen.

Anmerkung: In der Verwaltungsvorschrift wurde inzwischen klargestellt, dass hochfrequentierte Schulwege Straßenabschnitte sind, die innerhalb eines Stadt- oder Dorfteils eine Bündelungswirkung haben. Diese Wege können auch im Zusammenhang mit der Nutzung des ÖPNV bestehen.

Was kann man machen, wenn es noch keine Schulwegpläne gibt, kann man diese erzwingen?

Schulwegpläne werden Kommunen voraussichtlich ermöglichen, auf eine Zählung vor der Anordnung von Tempo 30 zu verzichten. Es ist aber damit zu rechnen, dass es auch Möglichkeiten gibt, Tempo 30 anzuordnen, wenn es keine Schulwegpläne gibt.

Einen gesetzlichen Anspruch auf einen Schulwegplan gibt es nicht, aber in vielen Fällen wird es sich lohnen, mit der Schule, Lehrkräften und anderen Eltern ins Gespräch zu kommen und sich hierfür einzusetzen. Es könnte ein niedrigschwelliger Weg sein, die Erstellung eines Schulwegplanes anzustoßen, um über das Thema Schulwegsicherheit vor Ort ins Gespräch zu kommen.

Anmerkung: In der Verwaltungsvorschrift wurde inzwischen klarstellt, dass die Lage von hochfrequentierten Schulwegen, also Straßenabschnitten, auf denen sich die Wege von Schüler*innen bündeln, begründet dargelegt werden muss. Sie kann, muss sich aber nicht aus Schulwegplänen ergeben.

Wie lange könnten Tempo 30-Abschnitte an hochfrequentierten Schulwegen sein?

Es dürfte maßgeblich sein, wie lang der Schulweg ist. Es sollte möglich sein, auf der gesamten Strecke Tempo 30 anzuordnen, die ein hochfrequentierter Schulweg ist.

Wie eng sind die genannten Einrichtungen gefasst? Wäre statt an einem Altersheim auch eine Anordnung von Tempo 30 an einer Physiotherapie oder Arztpraxis möglich?

Straßenverkehrsbehörden werden es vermutlich wörtlich verstehen. Vermutlich werden die Straßenverkehrsbehörden erst einmal mit den Einrichtungen beginnen, die neu hinzugekommen sind.

Ändert sich was bei Fußgängerwegen in Tempo 30 Zonen?

Nein. Hier gehen Straßenverkehrsbehörden davon aus, dass alle Verkehrsteilnehmer*innen sich an die Geschwindigkeitsvorgaben halten und so langsam unterwegs sind, dass kein besonderer Schutz durch einen Zebrastreifen mehr benötigt wird. Das ist gängige Praxis über viele Jahre. Das ist dringend überholungsbedürftig.

In einer Gemeinde gibt es auf 600 Metern Altenheime, ein Wohnheim für Behinderte und eine Kita und Gehsteige von 1,20 Metern. Ein Beschluss zu Tempo 30 hat im Rat eine politische Mehrheit gefunden, wurde aber mit dem Verweis auf die VwV-StVO vertagt. Ist dies nötig?

Generell ist die StVO ausreichend, man muss nicht auf die Verwaltungsvorschrift zur StVO warten. Es ist verständlich, wenn Kommunen aufgrund von Unklarheiten in der StVO auf die VwV-StVO warten wollen (z.B. Definition von hochfrequentierten Schulwegen).

In diesem konkreten Fall geht es aber um Orte, die alle in der Verordnung genannt werden, hier muss man nicht auf Hinweise in der Verwaltungsvorschrift warten. Diese werden nicht auf einmal Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen ganz anders definieren.

Im Übrigen sind von den genannten Orten nur die Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen in der letzten StVO-Novelle neu hinzugekommen. Für die anderen Einrichtungen könnte die Gemeinde sich auf die bestehende Rechtslage berufen, vielleicht ist das schon ausreichend für eine Anordnung von Tempo 30 auf dieser Strecke.

Wie kann eine Kommune, die die neuen Möglichkeiten der StVO nutzen möchte, an das Thema herangehen?

Beim Thema Tempo 30 könnte eine Kommune eine Karte mit den Hauptverkehrsstraßen herannehmen und bestehende Tempo 30-Strecken eintragen. Anschließend könnte sie sich vergegenwärtigen, wo schützenswerte Einrichtungen liegen und mögliche zukünftige Tempo-30-Strecken und Verbindungen zwischen diesen eintragen. Mögliche Fragen: Was würde passieren, wenn wir überall da, wo entsprechende Einrichtungen sind, Tempo 30 angeordnet würde? Reichen die eingetragenen Abschnitte für weitgehend flächendeckende Anordnung von Tempo 30? Welche Abschnitte sind besonders wichtig? Gibt es Abschnitte, wo wir kein Tempo 30 anordnen wollen?

Außerdem könnte sich eine Kommune überlegen, wie sie den Fuß- und Radverkehr fördern will, denn hier gibt es mit der neuen StVO viele Möglichkeiten. Bei Flächen für den Fuß- und Radverkehr muss weder die qualifizierte noch die einfache Gefahrenlage nachgewiesen werden. Man kann anders als bisher z.B. durchgehende Flächen für den Radverkehr besser schaffen, wenn dies z.B. einen Beitrag zur Verkehrsverlagerung leistet. Die Kommune kann sich überlegen, was sie gerne machen würde: wie sähe ein durchgängiges Radwegenetz aus? Was bedeutet das für die Umsetzung der Fußverkehrsstrategie, wenn die neuen Spielräume genutzt werden können?

Wie sieht es mit Verschwenkungen der Fahrbahn bei der Ortseinfahrt aus? Die Straßenverkehrsbehörde lehnt das bisher ab, obwohl eine lange und gerade Strecke auf den Ort zuführt, und der motorisierte Verkehr oft zu schnell unterwegs ist.

Der Fall ist nicht direkt in den neuen Regelungen aufgegriffen worden. Aber es gibt hier neue Möglichkeiten. Wenn z.B. hinter der Ortseinfahrt künftig Tempo 30 angeordnet werden kann, gibt es sehr gute Gründe schon bei der Einfahrt eine verkehrsverlangsamende Einrichtung anordnen zu dürfen. Schließlich ist sonst nicht damit zu rechnen, das ausreichend abgebremst wird. Falls weiter Tempo 50 angeordnet ist, ist das schwieriger.

Was kann getan werden, wenn es Anordnungsgründe gibt, auch Unterstützung der Bevölkerung vor Ort, aber die Behörde das nicht möchte?

Wenn die Kommune das selbst nicht mitträgt, dann wird es schwierig. Nur im Einzelfall haben Privatpersonen selbst Anspruch auf Handeln der Straßenverkehrsbehörde (vgl. z.B. Prozess zum Gehwegparken in Bremen). Kommunen können jetzt aber handeln und bei der Straßenverkehrsbehörde einen Antrag stellen. Die ermessensfehlerfeie Entscheidung muss schriftlich erfolgen. Straßenverkehrsbehörden können künftig solche Anträge nicht unbeachtet lassen.

Die Reform ermöglicht Dinge da, wo Kommunen wollen. Ersetzt nicht das Engagement vor Ort, die Auseinandersetzung vor Ort.

Jetzt kann Politik und Verwaltung auch nochmal anders herausgefordert werden. Auch in Städten, in denen die Straßenverkehrsbehörde im Haus ist, wird die Reform helfen.